Was muss man eigentlich machen, um das Virus zu bekommen?

Was muss man eigentlich machen, um das Virus zu bekommen?

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Man erhält derzeit aufgrund der Massnahmen und der zusammenhangslos rapportierten Zahlen den Eindruck: Wer ohne Maske im falschen Moment an der falschen Person vorbeigeht, ist danach von Corona angesteckt. Ich frage mich: Was mache ich falsch?

Eine im Grunde selbstverständliche, in dieser Zeit aber bitter nötige Vorbemerkung: Dieser Text macht sich in keiner Weise lustig über Menschen, die vom Coronavirus angesteckt und danach erkrankt sind – oder mehr. Es gibt sie, es gibt sie in grosser Zahl, und ihr Schicksal ist nicht zu verharmlosen. Aber die Frage der Verhältnismässigkeit lässt sich nicht am Einzelfall beantworten, nur am grossen Ganzen.

Deshalb muss man das, was kommuniziert wird, der Realität gegenüberstellen. Und zwar der Realität der absolut überwiegenden Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer, die nach wie vor frei vom Coronavirus ihren alltäglichen Aufgaben nachgehen, obwohl sie sich nicht abschotten und nur die notwendigsten, sinnmachenden Massnahmen befolgen: Eine gewisse Distanz und die persönliche Hygiene. Wir schauen derzeit völlig gebannt auf irgendwelche Fallzahlen, während das Leben da draussen weitergeht. Wir konzentrieren uns am Negativen und vergessen das Positive.

Ich selbst beispielsweise müsste schon längst mit grippetypischen Symptomen darniederliegen. Nicht, weil ich mich gewaltsam gegen die Massnahmen stemme, sondern weil ich sie ziemlich frei handhabe.

Die Maske beispielsweise. Ich trage sie, wenn ich einen Laden oder ein Restaurant betrete. Nicht etwa, weil ich glaube, dass mir Gefahr droht oder ich andere gefährden könnte. Sondern weil ich mich den lieben langen Tag beruflich mit Corona beschäftige und keine Lust habe, an Feierabend noch mit übermotivierten Bürgerpolizisten zu diskutieren. Noch viel weniger mit dem armen Ladenpersonal, das ja nur Befehle befolgt und Angst vor dem Verlust der Bewilligung hat. Eine Aufschrift auf meiner Maske sagt deutlich, was ich von dem ganzen Zirkus halte, mehr Provokation mute ich mir selbst nicht mehr zu. Im freien Raum eine Maske tragen hingegen kommt für mich nicht in Frage – und wird es nie tun. Selbst wenn Alain Berset persönlich an meiner Tür klingelt.

Ich fahre täglich die Rolltreppe aus dem Parkhaus hoch (mein Arzt sähe es lieber, wenn ich die Treppe nehme) und greife ohne nachzudenken an den Handlauf. Ich behändige auch im Einkaufszentrum einen Einkaufswagen, von dem wohl niemand ernsthaft glaubt, dass ihn das Personal nach jeder Benutzung desinfiziert. Ich habe es nie überprüft und es passiert unbewusst, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mir danach ins Gesicht greife. Mehrfach vermutlich.

Ich schüttle nach wie vor viele Hände. Nie ohne zu fragen. Aber die Menschen, die ich treffe, sehen es in aller Regel gleich wie ich, ein kurzer Blickaustausch, und beide wissen: Ja, wir wollen das. Ich fordere mein Gegenüber auch nie auf, zwei Schritte zurückzutreten. Verzeihung, aber ich führe keine soziale Interaktion mit dem Feldstecker. Ich brauche in meinem Beruf eine gewisse Nähe, eine Vertrautheit. Und wenn es die Situation erfordert, umarme ich einen Menschen, der es braucht. Leute, die eine dringend nötige Umarmung verweigern, weil es da draussen ein Virus gibt, sind mir suspekt. Verantwortung hat viele Gesichter.

Ich küsse meine Freundin, ohne von ihr zuvor ein Tagesprotokoll ihrer Begegnungen des heutigen Tages einzufordern. Ich küsse meine Kinder, ohne mich über allfällige Coronafälle in den Familien der Schulkameraden zu informieren. Warum? Weil es normal ist. Weil ich es will. Weil es allen gut tut.

Kurz gesagt: Ich lebe ziemlich normal. Aber das Virus will mich nicht. Vielleicht straft es ja Leute, die es nicht so ernst nehmen, mit Verachtung.

Keine Frage, es kann sein, dass dieser Text in ein oder zwei Wochen auf mich zurückfällt, wenn irgendwelche Symptome eintreten und mir ein freundlicher Arzt erklärt, mein Test sei positiv. Aber ganz offen: Das Risiko nehme ich in Kauf. Ich halte mich an die Statistik des Bundesamts für Gesundheit, die mir zweifelsfrei erklärt, dass es mir möglicherweise einige Tage lausig geht, bevor ich dann wieder loslegen kann. Bis dann habe ich Menschen umarmt, Hände geschüttelt, mich relativ normal im Alltag bewegt, kurz: Gelebt.

Vermutlich ist Corona eben einfach eine Frage der Prioritäten.

Und wer nun aufschreit, es gehe nicht nur um meine Gesundheit, sondern um die meines Umfelds: Ich werfe mich niemandem an den Hals. Und ich renne nicht durch die Fussgängerzone, um Leute anzuhusten. Das Rezept heisst Eigenverantwortung. Auf beiden Seiten.

Erschienen am 9. November 2020 auf https://www.dieostschweiz.ch
Geschrieben von Stefan Millius

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